Drei Studentinnen der University of Pretoria in der Museumswohnung Haselhorst. Foto: Ralph Maak

Museumswohnung Haselhorst: Vergangenheit trifft Zukunft

Der Besuch einer internationalen StudentInnen-Gruppe zeigt: Die Strahlkraft der Museumswohnung Haselhorst reicht weit über die Stadtgrenzen hinaus. Was die Faszination des Spandauer Unikats ausmacht, wird während einer Führung spürbar.

Wirklich? Stand Berlin schon mal an diesem Punkt? Wer Michael Bienert zuhört, kann schnell ins Staunen geraten. Manchmal scheint es dem Stadt-Historiker zu gelingen, ein knappes Jahrhundert einfach verschwinden zu lassen – etwa dann, wenn er über die Entstehung der Reichsforschungssiedlung Haselhorst referiert.

Ob „Mangel an bezahlbarem Wohnraum“, „Bedarf an schnelleren Bauverfahren“ oder „Experimente mit platzsparenden Wohnkonzepten“: Die Triebkräfte, die Bienert bei seinen Führungen durch die Museumswohnung des Spandauer Quartiers nennt, klingen eher nach Tagespresse als nach Geschichtsbuch, dabei liegt der Baustart nicht weniger als 95 Jahre zurück.

Fast wirkt es, als habe sich die Zeit selbst eingeholt, zumindest in Bezug auf drängende Wohnraumfragen. Tatsächlich waren die StadtplanerInnen in der Weimarer Republik mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wie NachfolgerInnen heute. Die zentrale Frage: Wie baut man hochwertige Wohnungen so ökonomisch wie möglich, sodass Menschen mit kleinem Einkommen in der Lage sind, die Miete zu zahlen?

Geschichte zum Anfassen

„Dann gehen wir mal hoch“, sagt Bienert vor der Hausnummer 19 des Burscheider Wegs, jenem Gebäude, in dem die Museumswohnung liegt. An einem warmen Juni-Tag haben sich hier StudentInnen der University of Pretoria (Südafrika) und der TU Berlin versammelt, um in die Geschichte der Berliner Stadtentwicklung einzutauchen. Bienert öffnet die Tür und geht voran. Folgt man ihm, liegen zwischen Gegenwart und Weimarer Republik nur ein paar Treppenstufen.

Eintritt in die Museumswohnung, so originalgetreu hergerichtet, als wäre sie noch bewohnt. Im Wohnzimmer warten Bügeleisen und Nähmaschine, im Schlafzimmer ein Wecker und ein Rasur-Set, im Badezimmer originalverpackte „Dalli“-Seife. Relikte einer längst vergangenen Zeit, antik, gut gepflegt und bestens erhalten. Geschichte zum Anfassen.  

Das Herzstück der Wohnung findet sich jedoch woanders, in einem zentralen Raum mit Esstisch und Kochnische. „Die Reichsforschungsgesellschaft hat sich sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, was die moderne Hausfrau braucht“, erklärt Bienert. „Man hat damals verschiedene Grundrisse entworfen, Modelle gebaut und Befragungen auf Hauswirtschaftsmessen durchgeführt.“ Marie-Elisabeth Lüders, gewissermaßen die „Mutter“ der Reichsforschungsgesellschaft, goss diesen Ansatz in prägnante Worte: Erst die Küche, dann die Fassade!

Erstes Großprojekt der Gewobag

Die Reichsforschungssiedlung Haselhorst zählt zu den größten Wohnungsbauprojekten der Weimarer Republik, insgesamt wurden hier 3.500 Wohnungen gebaut. Für die Gewobag war sie das erste Großprojekt.

Trotz ihrer wegweisenden Ansätze ist die Reichsforschungssiedlung in der Architekturgeschichtsschreibung unterrepräsentiert, was vor allem auf die historischen Umstände zurückzuführen ist. Planung und Baubeginn fielen in die Zeit der Weimarer Republik, fertiggestellt wurde das Großprojekt erst 1935, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Eine Fortführung blieb deshalb ebenso aus wie eine umfangreiche mediale Berichterstattung. 

Grundprinzipien bis heute relevant

In den 1920er-Jahren waren die Rahmenbedingungen relativ klar. Männer arbeiteten in den Fabriken, Frauen mussten Haushalt und Kinderbetreuung managen. Aufgaben, die sich in Haselhorst in den Grundrissen widerspiegeln. „Eine Küchenzeile war nicht nur platzsparender als eine separate Küche, sondern ermöglichte auch die Beaufsichtigung der Kinder, während vorbereitet und gekocht wurde“, sagt Bienert.   

Warum das alles bis heute relevant ist? Nun, weil die Prinzipien eine Art universelle Gültigkeit besitzen, unabhängig von Zeit und Raum. „Das, was hier gebaut wurde, lässt sich zwar nicht eins zu eins übertragen“, sagt Soziologieprofessorin Nina Baur (TU Berlin), die die StudentInnen-Gruppe betreut, „aber die Idee lässt sich kopieren. Die Kernfrage ist ja damals wie heute: Was benötigen die Menschen? Deshalb ist Haselhorst für uns ein unheimlich interessanter Ort – und das in vielerlei Hinsicht.“ Neben angehenden StadtplanerInnen nehmen auch Studierende aus den Fachbereichen Soziologie und Psychologie an der Führung teil.

Dass Bauhaus-Gründer Walter Gropius zu den prägenden Impulsgebern der Reichsforschungssiedlung zählt, passt ins Bild. Das Credo „form follows function“ (sinngemäß: Die Form ergibt sich aus der Funktion) ist in Haselhorst allgegenwärtig, sei es in der rationalistischen Architektur oder der geradlinigen, platzsparenden Innenausstattung. „Das Design“, sagt Bienert, „wurde so gestaltet, dass wenig Zeit fürs Putzen oder Kochen verloren geht und ein menschenwürdiges Zusammenleben auf engem Raum möglich ist.“

Zugleich wurden in Haselhorst mit neuen Formen des Bauens experimentiert. Materialien (z. B. unterschiedliche Steine), Konstruktionstechniken, -methoden und -prozesse – das alles wurde in zig Varianten erprobt und ausgewertet. Dass die Erkenntnisse in der Folge wenig Wiederhall fanden, war vor allem den politischen Umwälzungen durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten geschuldet.   

Lehrstück in puncto Nachhaltigkeit

Nichtsdestotrotz: Vieles, was einst in der Reichsforschungssiedlung angeschoben wurde, hat heute Leitbild-Charakter – auch bei der Gewobag. Aktuelle Beispiele finden sich in der Anpassung von Grundrissen (etwa bei Modernisierungsmaßnahmen), effizienten Raumkonzepten, neuen Bauverfahren oder der Entwicklung kompletter Quartiere. Denn: Auch hier wurde in Haselhorst ganzheitlich gedacht.    

„Die Siedlung sollte nicht wie eine ‚Wohnmaschine‘ aussehen“, erklärt Bienert, „deshalb wurde mit architektonischen Variationen bei der Gestaltung von Fenstern, Eingängen und Balkonen gearbeitet. Für die Versorgung gab es eine Ladenzeile. Eine Schule wurde ebenfalls mitgeplant, schließlich mussten innerhalb von fünf Jahren gut 12.000 Menschen angesiedelt werden.“ Eine weitere Parallele zu heutigen Großprojekten.

Und die Studierenden? Hören dem „Geschichte-Erzähler“ Bienert interessiert zu, stellen Fragen und nutzen die Chance zur Erkundung. Fast mit jedem Schritt, den sie auf den originalgetreuen Ochsenblut-Dielen machen, entdecken die MacherInnen von morgen ein weiteres spannendes Detail. Eine Erkenntnis: In puncto Nachhaltigkeit war die Vergangenheit der Gegenwart um einiges voraus – auch deshalb lohnt sich ein Besuch in Haselhorst. Für Soziologieprofessorin Baur steht fest: „Wir kommen gern wieder!“

Titelfoto: Ralph Maak

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