Ein Planer mit Helm, Warnweste und iPad auf einer Baustelle

Nachhaltiges Bauen: Kreislaufwirtschaft per Klick

Die Onlineplattform Madaster ermöglicht, sämtliche Bestandteile eines Gebäudes zu katalogisieren, um sie bei Um- oder Rückbau wieder zu Rohstoffen werden zu lassen. Wie das gelingen und zu einem Paradigmenwechsel in der Baubranche führen kann, zeigt auch ein Beispiel der Gewobag. 

Wie jede starke Vision hat auch diese viele Facetten, aber um sich dem Kern der Idee zu nähern, reicht ein simples Gedankenspiel. Man stelle sich ein Neubau- oder Sanierungsprojekt vor, eines, bei dem sich in der Planung abzeichnet, dass die nötigen Baustoffe schwer zu beschaffen sind. Für die Gründe braucht man nicht viel Fantasie: Bei einigen Komponenten sind die Rohstoffe knapp, andere unterliegen einem rasanten Kostenanstieg, bei wieder anderen sind die dazugehörigen Lieferketten gestört – schlimmstenfalls trifft alles drei zu. Denkbar ungünstige Bedingungen. Und nun?

Neue Probleme erfordern bekanntlich neue Lösungen, aber das Beispiel der Onlineplattform Madaster beweist, dass sich das Neue mitunter im Alten, im Vorhandenen finden lässt. Bezogen auf das skizzierte Bauvorhaben heißt das: Statt neuer Materialien werden Baustoffe herangezogen, die sich aus Rück- oder Umbauprojekten bestehender Gebäude gewinnen lassen, zum Beispiel Stahl oder Holz, Türen oder Fenster.

In die Jahre gekommene Gebäude dürften durch das Konzept eine grundlegend veränderte Wahrnehmung erfahren. Was in der Vergangenheit als „abrissreif“ betrachtet wurde, kann in Zukunft als gut sortierte Materialkammer angesehen werden, Stichwort „Urban Mining”.

Ein Materiallager im Freien. Zu sehen: Sortierte Baumaterialien wie Türen, Fenster, verschiedene Steine und Holzbalken.
Potenzial zur Wiederverwendung: Türen, Fenster, Steine und Holz aus rückgebauten Immobilien. Foto: Adobe Stock

Madaster erleichtert die Kreislaufwirtschaft

Die Idee hinter Madaster ist so simpel wie einleuchtend. Sämtliche Bestandteile eines Bauwerks werden auf der Plattform des Unternehmens in ihrer Art und Menge in einem Material-Kataster erfasst, sodass sie später bestmöglich weiterverarbeitet werden können, im Idealfall in Form von Wiederverwendung und Recycling. Ein zukunftsträchtiges Modell, das eine Kreislaufwirtschaft in der Baubranche erheblich erleichtern wird und hilft, wertvolle Ressourcen zu schonen.

„Wir möchten folgenden Generationen etwas übergeben können, woraus sich ablesen lässt, welche Materialien in welcher Dimension eingesetzt wurden“, sagt Thorsten Schulte, Geschäftsführer der Gewobag Entwicklungs- und Baubetreuungsgesellschaft (Gewobag EB). „Wenn wir unsere Zukunft nachhaltig gestalten wollen, ist das eine Verpflichtung.“

Paradigmenwechsel in der Baubranche

Zugegeben, beim Neubau schon wieder an den Rückbau zu denken, mag auf den ersten Blick irritieren, ist aber im wahrsten Sinn des Wortes zukunftsorientiert. In der Immobilienbranche etabliert sich bereits ein neues Leitbild: Ertüchtigung und Umnutzung statt Abriss und Neubau. Ein Paradigmenwechsel, durch den sich neben dem Rohstoffverbrauch auch CO2-Emissionen reduzieren lassen.

FürsprecherInnen dieses Modells finden sich zuhauf. Der Bund der Deutschen Architektinnen und Architekten plädierte bei Bundesbauministerin Klara Geywitz unlängst für ein Abrissmoratorium, die Bundesstiftung Baukultur fordert eine „neue Umbaukultur“. Auch das Umweltbundesamt tritt dafür ein, „Umbau und Umnutzung bestehender Gebäude stärker in den Fokus zu rücken“, und selbst Fondgesellschaften attestieren sogenannten Transformationsimmobilien einen „gewinnbringenden Lösungsansatz“. Kurz: Die Zeichen stehen auf Nachhaltigkeit. Wofür eine funktionierende Kreislaufwirtschaft unabdingbar ist.   

Gewobag nutzt Madaster bei Großprojekt

Wie das Ganze in der Praxis aussehen kann? Das zeigt das aktuelle Großprojekt der Gewobag an der Landsberger Allee in Lichtenberg, bei dem das Wohnungsbauunternehmen die verwendeten Bauteile erstmals mit Madaster dokumentiert.

Wo wurde wie viel Stahl verbaut? Welches Holz wurde verwendet? Aus welchem Material bestehen die Fenster? Fragen wie diese erhalten durch das neue Verzeichnis eindeutige Antworten, die eines Tages äußerst hilfreich sein werden – etwa dann, wenn es gilt, das Gebäude neu zu beleben. 

Illustration Neubauprojekt Landsberger Allee. Mehrere Baukörper mit begrünten Dachflächen
Das Neubauprojekt an der Landsberger Allee realisiert die Gewobag in Modulbauweise. Die einzelnen Baustoffe werden dabei mittels Madaster-Software katalogisiert. Simulation: Raumerfinder GmbH

„In der Zukunft kann die Gewobag einer Baufirma dadurch sehr konkrete Vorgaben machen“, erklärt Thorsten Schulte. Ein Auftrag könnte in etwa lauten: „Auf Etage XY finden Sie folgende, in Madaster verzeichneten Produkte. Bitte verwenden Sie diese Produkte bei der Neugestaltung, preisen Sie den Wert der vorhandenen Produkte ein und machen Sie uns ein Angebot.“

Ein weiterer Pluspunkt: Die benötigte Datenbasis zu schaffen, erfordert keinen großen Aufwand. Bei Neubauvorhaben können ArchitektInnen und PlanerInnen ihre gängigen BIM-Modelle (detaillierte Bauwerksdatenmodellierungen, Anm. d. Red.) direkt auf der Madaster-Plattform hochladen. Die „Übersetzung“ der Daten übernimmt die Software.

Madaster bietet vielfältige Vorteile

„Mit Madaster haben wir jetzt einen starken Partner an unserer Seite, der uns wichtige Erkenntnisse zur Wiederverwendbarkeit von Materialien gibt“, sagt Gewobag-Vorstandsmitglied Markus Terboven. Per Mausklick lässt sich fortan feststellen, wo welches Bauteil in welcher Beschaffenheit im Gebäude zu finden ist – und das ist noch nicht alles. 

Denn zugleich wird aus den Daten ein Materialpass erstellt, der nicht nur Rückschlüsse über die Klimabilanz und das Recyclingpotenzial des Gebäudes gibt, sondern auch hilft, zu jedem beliebigen Zeitpunkt den materiellen Wert einer Immobilie zu ermitteln. Erleichtert wird dies durch eine direkte Verknüpfung der Madaster-Daten mit Rohstoffbörsen.   

Investition in Nachhaltigkeit

Bei Banken und Investoren bekommt das Thema Nachhaltigkeit einen immer höheren Stellenwert. Einige Kreditinstitute knüpfen ihre Finanzierung bei größeren Investitionssummen bereits an Rückbaukonzepte und die Dokumentation verbauter Materialien. Dass der Restwert durch Materialerlöse angegeben werden kann, wirkt sich in diesem Zusammenhang ebenfalls positiv aus.

Auch bei der Entsorgung hilft Madaster

Klar ist: So wie Gründerzeitbauten vielerorts an die Anforderungen des Hier und Jetzt angepasst werden, wird es eines Tages auch Veränderungen an den Neubauten von heute brauchen – zeitgemäße Nutzungskonzepte und modifizierte Grundrisse, bei denen neue Gebäudeteile hinzukommen könnten, während andere rückgebaut werden.

Ein Beispiel: An der Landsberger Allee realisiert die Gewobag bei insgesamt knapp 1.500 Wohnungen auch 600 Studentenwohnungen. „Wer weiß, ob diese Wohnungen in 40, 50 Jahren noch gebraucht werden“, gibt Thorsten Schulte zu bedenken.

Wird dann vielleicht nur noch online studiert? Gibt es in der Bevölkerungszusammensetzung womöglich gar nicht mehr so viele StudentInnen wie heute? Möchten die StudentInnen eventuell nicht mehr auf nur 22 Quadratmetern leben? Schulte ist sicher: „Diese Fragen deuten darauf hin, dass wir damit umgehen müssen, Häuser umzubauen.“ Ein Unterfangen, das an der Landsberger Allee auch deshalb gut gelingen dürfte, weil das Projekt in Modulbauweise realisiert wird.   

Wie immer die Veränderungsprozesse aussehen mögen: Die Datenbasis von Madaster wird bei ihrer Umsetzung helfen – selbst dann, wenn es sich um reine Entsorgung handelt. „Vielleicht wurde 2023 ein Dämmstoff verwendet, der in 2050 besonders kritisch betrachtet wird“, sagt Thorsten Schulte. „Dank Madaster weiß ich dann, wo genau im Gebäude ich dieses Material finde und wie viel es davon gibt. Das erleichtert den Umgang damit erheblich.“

Vielfältige Zielgruppe

Gegründet wurde Madaster 2017 in den Niederlanden, unter anderem vom deutschen Architekten Thomas Rau. Inzwischen ist das Unternehmen in fünf europäischen Ländern aktiv, in Deutschland (Berlin) seit 2021. Insgesamt wurden bisher rund 16 Millionen Quadratmeter Baufläche auf der Onlineplattform registriert. Zur Zielgruppe zählen neben den GebäudeeigentümerInnen, die den Schlüssel zu den Daten in ihrer Hand halten, auch ProjektentwicklerInnen und ArchitektInnen, Baustoffhersteller, Städte und Kommunen sowie Rückbau- und Recyclingunternehmen.

Titelfoto: iStock

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