Eine Bewohnerin des "Omabunkers" zeigt lächelnd ihren erhobenen Daumen, der mit roter Farbe bedeckt ist. Foto: Felix Seyfert

Daumen hoch! Schöneberger „Omabunker“ rockt die Berliner Kunstszene

Neben Abdrücken hinterlassen sie vor allem bleibenden Eindruck: Die BewohnerInnen des selbsternannten „Omabunkers“ haben in Schöneberg ein inspirierendes Kunstwerk geschaffen und sind nun Teil einer gefeierten Ausstellung. Über ein bewundernswertes Projekt.

Ingrid drückt vorsichtig ihren Daumen gegen die Wand. Ein dunkelroter Tupfer hebt sich kontrastreich von der weißen Fläche ab. Sie wiederholt den Prozess so oft, bis der Abdruck entlang einer horizontalen Linie immer blasser wird. Dann presst sie ihren Daumen erneut in ein mit Tinte getränktes Kissen und fängt von vorn an.

Seit 2017 lebt die 87 Jahre alte Berlinerin im Eckhaus Bülowstraße/Frobenstraße in Schöneberg, das sie und ihre NachbarInnen liebevoll und selbstironisch „Omabunker“ nennen. Ingrid gilt als gute Seele des Hauses. Schon seit 2012, lange bevor sie einzog, organisiert sie ehrenamtlich gemeinsame Aktionen mit den BewohnerInnen, doch warum sie nun ihren Daumenabdruck im Ausstellungsraum des benachbarten URBAN NATION Museums hinterlässt, darf man sich trotzdem fragen. Fakt ist: Ingrid und weitere SeniorInnen aus dem Gewobag-Haus Bülowstraße/Frobenstraße sind mit ihren Daumenabdrücken schlagartig Teil der Berliner Kunstszene geworden.

Hingucker bei der Berlin Art Week

Initiiert wurde die Aktion von der südkoreanischen Künstlerin Jazoo Yang, die mit den „Omabunker“-BewohnerInnen in zwei Sessions eines ihrer weltweit bekannten Dots-Kunstwerke erarbeitete. Zu sehen ist es seit dem 13. September 2024 in der neuen Ausstellung des URBAN NATION Museums, die bis 2027 kostenlos besucht werden kann. Auch bei der feierlichen Eröffnung im Zuge der Berlin Art Week waren Ingrid und Co. mit dabei. Eine große Bühne für kleine Daumenabdrücke – klar, so etwas lässt man sich nicht entgehen.    

Die Dots-Serie hat ihren Ursprung in Busan, wo Jazoo Yang 2015 ein traditionelles Haus mit ihrem Daumenabdruck verzierte, weil es abgerissen und durch ein Hochhaus ersetzt werden sollte. In Korea hat der Daumenabdruck „Jijang“ eine große Bedeutung. „Jijang“ ist der öffentliche Ausdruck für ein Versprechen, einen Eid oder ein Siegel. Jazoo Yang nutzt ihn in ihren Dots-Projekten, um auf die Balance zwischen notwendiger Sanierung und sozialer Gerechtigkeit hinzuweisen und Gruppen eine Stimme geben, die oft unsichtbar bleiben.

Der „Omabunker“ steht für Kreativität statt Resignation

Zu Beginn der „Omabunker“-Sessions zeigt Jazoo Yang Bilder von Steintrümmern in der Hafenstadt Busan, die einst die Häuser einer ganzen Gemeinschaft waren. „Das größte Problem ist, dass in all diesen Gegenden hauptsächlich ältere und ärmere Menschen wohnen. Sie müssen zusehen, wie die Orte, in denen sie gelebt haben, zerstört werden. Nur selten werden sie für ihren Verlust entschädigt“, sagt sie.

Die BewohnerInnen des „Omabunkers“ machen die Bilder betroffen. Sieben Frauen und zwei Männer haben sich eingefunden, um an der Kunstaktion teilzunehmen. An die Hausgemeinschaft herangetragen wurde das Projekt von Xenia Müller, ihres Zeichens Projektreferentin der Gewobag-Stiftung Berliner Leben, die im Schöneberger Norden zahlreiche Impulse für die soziale Quartiersentwicklung setzt. Die kreative Community um Ingrid, die sogar einen eigenen Instagram-Account betreibt, ließ sich nicht zweimal bitten. 

Abriss ist an der Bülowstraße zwar kein Thema, dafür hat der Kiez seine eigenen Themen. Das Rotlichtmilieu und seine Begleiterscheinungen sind auch für die BewohnerInnen an der Ecke Bülowstraße/Frobenstraße spürbar – in den vergangenen Jahren hat sich der Straßenstrich immer mehr in Richtung Frobenstraße verschoben.

Ingrid, die 2017 zuzog, weil sie eine barrierefreie Wohnung suchte, konnte die Situation anfangs gar nicht einsortieren. „Als ich zum ersten Mal eine junge Frau mitten auf der Bülowstraße stehen sah, hatte ich Sorge, dass sie unbedacht dort steht und überfahren wird. Ein Auto hielt, ein Mann lehnte sich heraus und ich dachte, er wollte nach dem Weg fragen“, erzählt sie kichernd, während sie weitere Daumenabdrücke an der Wand hinterlässt. „Ja, die Umgebung um das Haus ist nicht so großartig“, fügt sie hinzu. „Aber das stört mich überhaupt nicht. Die Hausgemeinschaft ist so toll und deshalb gehe hier auch nicht mehr weg.“

Inspirierende Gemeinschaft

Alle 14 Tage treffen sich die MieterInnen im Gemeinschaftsraum, manchmal sitzen sie auch im selbst angelegten Garten zusammen. Wenn Ingrid kocht, kommen andere BewohnerInnen gern zum Essen vorbei, allen voran Jana, die mit ihrem weißen Pudel ohnehin fast täglich Ingrid und ihre Katze besucht.

„Als ich einzog, kannte ich niemanden, aber es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Jana. Die beiden Frauen, die ein Altersunterschied von 30 Jahren trennen könnte, gehen gemeinsam einkaufen oder beraten sich bei einem Kaffee auf dem Balkon. „So eine Bindung hatte ich noch nie in meinem Leben. Ingrid ist für mich die Mutter, die ich nie hatte“, sagt Jana.

Kleine Fingerabdrücke, große Wirkung

Nach zwei Tagen ist der etwa zehn Quadratmeter große Raum im URBAN NATION Museum nicht nur von oben bis unten mit Daumenabdrücken gefüllt, sondern mit Geschichten, Erinnerungen und Erlebnissen. Eine Erfahrung, die Jazoo Yang schon häufiger beim gemeinschaftlichen Arbeiten an Dots-Projekten gemacht hat.

„Die erste Aktion an dem Haus in Südkorea habe ich nur für mich gemacht“, erzählt sie. Eine bekannte Künstlerin zu werden, die Menschen zusammenbringt, war gar nicht ihre Intention, aber die vielen individuellen Geschichten, die die Menschen mit ihr teilten, zeigten ihr, dass nicht nur durch das Kunstwerk selbst, sondern auch durch das Teilen von Erinnerungen ein Raum geschaffen wird. Ein Raum, der von der Kraft der Gemeinschaft zeugt – so, wie die vielen Daumenabdrücke im URBAN NATION Museum, die zusammen weit mehr sind als die Summe ihrer Teile.  

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Titelfoto: Felix Seyfert

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