Schriftzug "Housing First Berlin" auf einer Glasscheibe

Housing First Berlin:
Neue Wohnung, neue Chance

Housing First gibt Obdachlosen die Chance, mit eigenem Mietvertrag in ein neues Leben zu starten. In der Berliner Wohnungslosenhilfe soll das einstige Modellprojekt künftig das Leitmotiv sein. Über eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte.

Da war er wieder, dieser ganz besondere Augenblick – diesmal kurz nach Weihnachten. „Erst am 27. Dezember hat wieder eine wohnungslose Person einen Mietvertrag unterschrieben und durfte direkt einziehen“, erzählt Sebastian Böwe: „Das ist für uns immer einer der schönsten Momente. Da fließen auch Tränen, und das nicht nur bei den neuen MieterInnen.“

Wie aus Obdachlosen plötzlich Schlüsselbesitzer werden, hat Böwe schon oft erlebt. Seit 2018 arbeitet er als Wohnraumkoordinator des Projekts Housing First Berlin daran, Menschen von der Straße zu holen, ihnen eine Wohnung zu organisieren und damit eine neue Lebensperspektive zu eröffnen.

Erst die Wohnung, dann alles Weitere

„Inzwischen haben wir über 50 Menschen in Wohnungen vermittelt“, sagt er nicht ohne Stolz. Eine bemerkenswerte Bilanz, die auch auf politischer Ebene honoriert wird. Im Berliner Doppelhaushalt 2022/2023 sind für den Hilfsansatz von Housing First insgesamt 6,1 Millionen Euro vorgesehen. Eine Verdoppelung der bisherigen Finanzierungssumme – für Böwe und seine MitstreiterInnen ein enormer Erfolg. Und das Resultat unermüdlicher Anstrengungen.

Ursprünglich stammt das Projekt Housing First aus den USA. Die Idee: Obdachlose, die auf dem Wohnungsmarkt keine oder kaum noch Chancen haben, sollen zunächst eine eigene Bleibe bekommen. Ohne vorherige Odyssee durch Notunterkünfte, städtische Wohnheime und Therapien, so wie es bei vielen anderen Hilfsangeboten der Fall ist.

„Die Leute kommen in ihren vier Wänden zur Ruhe“, ist Böwe überzeugt. Stufenmodelle, bei dem die Betroffenen zunächst diverse Nachweise erbringen müssen, erzeugten dagegen oftmals zu viel Druck und könnten schnell zu einem „Drehtüreffekt“ führen. Nicht selten würden Betroffene rückfällig und landen wieder auf der Straße.

Porträt Sebastian Böwe
Sebastian Böwe war einst selbst wohnungslos. Heute kämpft er mit dem Projekt Housing First Berlin dafür, Obdachlose von der Straße zu holen. Foto: Johannes Schneeweiß

Die Wohnungen für das Projekt müssen jedoch erst mal gefunden werden. Gesucht werden vor allem bezahlbare 1- bis 1,5 Zimmer-Wohnungen. In Berlin, wo der Wohnraum ohnehin schon knapp ist, kein leichtes Unterfangen.

Gutes Netzwerk, starke Kooperationen

Mittlerweile profitieren Böwe und Co. von einem guten Netzwerk. Unter anderem besteht eine Kooperation mit der Gewobag, bei der bereits sieben Personen aus dem Projekt einen Mietvertrag unterschrieben haben.

In Politik und Wirtschaft ist Housing First heute längst ein Begriff – nicht zuletzt durch Netzwerker Böwe. Im Sakko ist er auf Empfängen und Sommerfesten unterwegs, klopft direkt an die Türen der Chefetagen der privaten und kommunalen Wohnungsunternehmen, trifft sich mit ProjektentwicklerInnen und Hausverwaltungen.

Dass er dabei mit kritischen Fragen konfrontiert wird, gehört zu seinem Job. Werden die Menschen ordentlich mit der Wohnung umgehen? Wird die Miete regelmäßig bezahlt? Wie ist die Resonanz in der Nachbarschaft? Eine Skepsis, die verständlich ist, doch das Beispiel Housing First Berlin beweist, dass das Konzept funktioniert.

Wille zur Veränderung als Basis

Die Miete wird von den Sozialämtern übernommen, Horrorgeschichten bleiben aus. „Natürlich präsentieren wir nicht den Triple-A-Mieter“, sagt Böwe, „aber unsere Partner wie die Gewobag sind von dem Ansatz überzeugt und sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst.“

Komplett bedingungslos ist das Angebot für die Obdachlosen nicht. Das Projekt kommt nur für Menschen infrage, die einen gesetzlichen Anspruch auf Sozialleistungen und mindestens ein Jahr auf der Straße gelebt haben. Wer schwer drogenabhängig oder psychisch krank ist, sodass ein Gespräch nicht möglich ist, sollte andere Hilfsangebote in Anspruch nehmen.

Empathie durch eigene Erfahrung

Dieser Mann weiß, wovon er spricht: Sebastian Böwe hat erlebt, wie es ist, wochenlang in denselben Klamotten in der S-Bahn oder frierend auf der Parkbank zu liegen. Mit achtzehn musste er von zu Hause weg. Im Ost-Berlin der 1980er-Jahre lebte Böwe ein halbes Jahr abwechselnd bei Freunden oder auf der Straße. Obdachlosigkeit gab es in der DDR offiziell nicht. Trotz aller Widrigkeiten begann Böwe eine Lehre als Drucker und konnte sich schrittweise selbst aus der Situation befreien. Über zwanzig Jahre ist er mittlerweile im sozialen Bereich tätig, seit 2018 für Housing First Berlin.

Wenn die Betroffenen nicht über bestehende Angebote der sozialen Wohnungslosenhilfe vermittelbar sind und – ganz wichtig – selbst zu Veränderungen bereit sind, werden sie zum Gespräch eingeladen. „Der Wille muss da sein“, betont Böwe, der mit allen KandidatInnen mindestens drei Vorgespräche führt.

Gefährliche Abwärtsspiralen

Der Bedarf in Berlin ist gewaltig: Schätzungen gehen von 20.000 bis 50.000 wohnungslosen Menschen aus. Viele schlafen auf der Straße, bei Freunden und Bekannten oder leben während der Wintermonate in städtischen Unterkünften.

Eine Ursache dafür sehen ExpertInnen im rapiden Mietenanstieg in den Großstädten und dem Mangel an Sozialwohnungen. In der Folge geraten immer mehr Existenzen in eine Abwärtsspirale.

Die persönlichen Gründe sind vielschichtig: Scheidung, Jobverlust, Überschuldung, Gewalterfahrungen, psychische Krankheiten, Gefängnisaufenthalte oder Alkohol- und Drogensucht. Bei Housing First Berlin finden sich ehemals erfolgreiche Betriebsleiter oder Mittevierziger, die nach der Scheidung plötzlich abgerutscht sind.

Intensive Betreuung als Erfolgsschlüssel

Das Finden einer passenden Wohnung ist bei Housing First erst der Anfang. „Danach geht die eigentliche Arbeit erst richtig los“, erklärt Böwe, „man darf die Menschen in ihren neuen Wohnungen nicht allein lassen.“

SozialarbeiterInnen oder -betreuerInnen kommen regelmäßig vorbei, schauen nach dem Rechten, helfen beim Montieren der Möbel, beim tropfenden Wasserhahn, bei Behördengängen oder begleiten beim Einkauf. In einigen Fällen müssen zudem Traumata und Abhängigkeiten aufgearbeitet und therapiert werden – das alles so lange wie gewünscht und notwendig.

Porträt Corinna Müncho
Corinna Müncho arbeitet als Projektleiterin bei Housing First Berlin. Foto: Johannes Schneeweiß

„Die Betreuung ist für unsere Arbeit immer der Flaschenhals“, sagt Böwe, „denn die Kapazitäten sind begrenzt.“ Eine Situation, die sich in diesem Jahr durch die aufgestockte Finanzierung durch die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales deutlich verbessert hat. Die Zahl der MitarbeiterInnen hat sich verdoppelt, im Wedding wurde ein neuer Standort eröffnet.

Im neuen Jahr soll das Projekt weiter ausgebaut und verstetigt werden. Das große Ziel: Bis 2030 soll niemand mehr obdachlos sein – so haben es unter anderem die Vereinten Nationen vorgegeben. Für Böwe ist klar: „Wir werden weiter mit aller Macht dafür kämpfen, die Menschen von der Straße zu bekommen.“

Fotos © Johannes Schneeweiß

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