Lehrer von Plan MSA im Gespräch mit zwei Schülerinnen.

Fast wie Schule, nur besser

Das Bildungsprojekt „Plan MSA“ bereitet Kreuzberger SchülerInnen im Quartier am Wassertorplatz auf ihre Abschlussprüfungen vor, die in der zweiten Aprilhälfte ihren Anfang nehmen. Das Ziel: ein guter Schulabschluss – und damit eine gute Zukunftsperspektive. Die Erfolgsquote ist beindruckend.

Elvis möchte Architekt werden. Mariama möchte zuerst als Flugbegleiterin arbeiten, ehe sie an die Uni wechselt, und Ayat will Zahnmedizin studieren. Die drei Freunde sitzen an einem Spätnachmittag in einem Klassenraum im „Mehrgenerationenhaus Wassertor“ (MGH) und warten darauf, dass der Unterricht beginnt. 

Heute geht es um Mathe, nicht gerade die Paradedisziplin der drei Freunde, die gemeinsam die elfte Klasse der Refik-Veseli-Schule in Kreuzberg besuchen. Die Stimmung ist gut, vor allem bei Ayat, die gerade erst eine Zwei geschrieben hat.

„Die Lehrer hier erklären es einfacher als die in der Schule“, sagt Elvis. Und obwohl es sicher aufregendere Orte gibt, um die Nachmittage zu verbringen, kommen er, Mariama und Ayat gern hierher. Woche für Woche, bis sie das Abitur geschafft haben.

Lob aus den Kooperationsschulen

Die Chancen dafür stehen – statistisch gesehen – sehr gut. Seit dem Jahr 2010 bietet das Projekt „Plan MSA“ eine kostenfreie Vorbereitung für die vergleichenden Abschlussprüfungen für den „Mittleren Schulabschluss in Berlin“ (MSA) an. Später kamen Angebote für das Abitur und den „Berufsorientierenden Abschluss“, kurz BOA, dazu.

Inzwischen haben mehr als 700 SchülerInnen das Programm durchlaufen. Im Schuljahr 2021/22 schafften 97 Prozent von ihnen den Abschluss nach der zehnten Klasse, vier von fünf SchülerInnen das Abitur. 

Eine Lehrerin zeigt an einem Whiteboard den Stundenplan von Plan MSA.
Voller Stundenplan: Nicht nur die SchülerInnen, auch die Lehrkräfte haben jede Menge zu tun. Foto: Nils Bröer/raufeld

FachlehrerInnen an den Kooperationsschulen loben insbesondere die Leistung der SchülerInnen in den mündlichen Abiturprüfungen. Das liegt daran, dass zum Lehrkonzept auch ein Präsentationstraining gehört – ein kleines Wort dafür, dass es hier auch darum geht, den SchülerInnen das nötige Selbstvertrauen beizubringen, um sich in der Prüfung auf Deutsch zu behaupten. Für manche der Teilnehmenden keine Selbstverständlichkeit: Rund 97 Prozent haben einen migrantischen Hintergrund.

Hilfe zur Not auch sonntags um 22:30 Uhr

Im Büro der KursleiterInnen bereiten sich Rosa Koumari und Stefan Hernádi gerade auf den nächsten Kurs vor. Koumari ist seit 2011 dabei, Hernádi seit 2015. Beide sind keine ausgebildeten LehrerInnen im klassischen Sinne, sondern haben Biologie beziehungsweise Mathematik und Politikwissenschaft studiert.

Ihnen ist wichtig: „Wir machen hier keine Nachhilfe, sondern eine gezielte schulbegleitende Prüfungsvorbereitung mit eigenem Lehrplan und eigenem Lehrmaterial, das wir selbst entwickelt haben.“ Rosa Koumari fügt hinzu: „Die KursteilnehmerInnen bekommen bei uns gute Qualität, kein Standardprogramm. Ich bin überzeugt davon, dass die, die zu uns kommen, diese Wertschätzung, mit der wir ihnen in unserer Arbeit begegnen, auch wahrnehmen.“ 

Letztere beruht bei „Plan MSA“ auf Gegenseitigkeit: An der Wand ist ein Foto angepinnt, es zeigt den schneebedeckten Mini Cooper von Koumari am Straßenrand. Jemand hat „Danke Rosa“ auf die Motorhaube gemalt.

Foto des Autos einer Lehrerin an einer Pinnwand, auf dem SchülerInnen "Danke Rosa" in den Schnee gemalt haben.
An der Pinnwand im Büro hängt neben vielen Notizen auch dieses Foto von Rosa Koumaris Auto – mit Dankesbotschaft auf der Motorhaube. Foto: Nils Bröer/raufeld

Und noch etwas zeichnet das Projekt aus: „Wenn am Sonntagabend um 22:30 Uhr noch eine Frage zur Klausur am Montag kommt, dann antworten wir im Unterschied zu kommerziellen Anbietern auch nochmal, das gehört bei uns auch ein bisschen zum Konzept dazu“, sagt Hernádi, „sicherlich nicht immer, aber wir bekommen da einen ganz guten Mix hin.“

Riesige Nachfrage, begrenzte Kapazitäten

Zu tun hat das Team aber auch so genug. Der Stundenplan, der beinahe die gesamte Wand des kleinen Büros einnimmt, ist voll. Im Augenblick besuchen insgesamt 65 SchülerInnen die Kurse und es könnten noch mehr sein.

„Wahrscheinlich könnten wir die Kurse auch doppelt belegen, die Nachfrage ist da“, sagt Rosa Koumari. Tatsächlich bekommen die KursleiterInnen jedes Jahr viel mehr Bewerbungen, als sie unterbringen können. „Wir schauen dann wirklich sehr stark darauf, ob die SchülerInnen auf das Angebot angewiesen sind“, fügt Koumari hinzu. 

Das Angebot ist kostenfrei und auf eine konkrete Zielgruppe zugeschnitten. „Die GründerInnen des Projekts haben 2010 festgestellt, dass migrantische Jugendliche insbesondere bei den MSA-Prüfungen und insbesondere in Kreuzberg schlechter abschneiden als in anderen Stadtteilen“, sagt Stefan Hernádi. „Wir sehen das in den Statistiken bis heute.“ Das gilt insbesondere für Jugendliche mit Förderbedarf. Die wöchentliche BOA-Lerngruppe befindet sich im Augenblick mit vier TeilnehmerInnen in der Pilotphase.

Gewobag zählt zu den Unterstützern

Die Gewobag finanziert allein drei Kursplätze pro Jahr. Die weitere Finanzierung des Projekts sichern die Heidehof Stiftung, die Karl Bröcker Stiftung, die Kreuzberger Kinderstiftung und die Stiftung Lulu & Robert Bartholomay. Zusätzliche Mittel kommen von den Kooperationsschulen Refik-Veseli und Albrecht von Graefe.

Kurze Dienstbesprechung im Mehrgenerationenhaus: Merle Brüser (l.) von der Gewobag besucht die Lehrkräfte Rosa Koumari und Stefan Hernádi. Foto: Nils Bröer/raufeld

Dass die Gewobag „Plan MSA“ unterstützt, ist aus Sicht von Merle Brüser nur folgerichtig. Die 28-jährige ist für das Unternehmen seit einem Jahr als Quartierskoordinatorin im Kiez am Wassertorplatz unterwegs. Sie unterstützt die Mieterbeiräte bei ihrer Arbeit, vertritt die Gewobag im Quartiersrat und ist vor allem Ansprechpartnerin für die Belange der MieterInnen im Kiez.

Insgesamt verfügt die Gewobag über rund 2.500 Wohneinheiten im Quartier. Eine Zahl, aus der eine besondere Verantwortung erwächst. Das Gebiet reicht von der Gitschiner Straße im Süden bis zur Reichenberger Straße im Norden und von der Prinzenstraße im Westen bis zum Erkelenzdamm im Osten.

Herausforderndes Umfeld

An einem Frühlingstag sitzt die studierte Stadt- und Regionalmanagerin in der Gewobag-Kiezstube (ein kostenfrei zur Verfügung gestellter Raum für nachbarschaftliche Angebote) und blickt auf den Kastanienplatz. Sie kennt die verschiedenen Gesichter des Quartiers – und die könnten unterschiedlicher kaum sein.

Das „Integrierte Handlungs- und Entwicklungskonzept des Quartiersmanagements 2019-2022“ zeichnet ein ernstes Bild dieser Nachbarschaft. Die Anzahl der TransferleistungsbezieherInnen lag 2017 nach Daten des Statistischen Landesamtes mit 45,74 Prozent weit über dem Berliner Durchschnitt (16,95 Prozent). Die Kinderarmut war mit 67,12 Prozent im Vergleich zur gesamten Stadt (28,91 Prozent) eklatant.

Karte des Kreuzberger Quartiers am Wassertorplatz.
Merle Brüser beim Blick auf einen Plan des Quartiers. Foto: Nils Bröer/raufeld

Die AutorInnen des Berichts verorten den Planungsraum Wassertorplatz auf der gesamtstädtischen Entwicklungsskala auf Platz 417 – von 419. Auf dem Papier klingt das nicht nach einer günstigen Entwicklungsperspektive, doch Merle Brüser kennt auch den anderen Blickwinkel. Denn was für die Stadtentwicklung ein Problemquartier ist, ist für die MieterInnen vor Ort vor allem eins: ihr Zuhause.

MieterInnen gestalten das Quartier mit

„Man muss das Potenzial der MieterInnen sehen“, sagt Brüser. Und das lässt sich eben nicht immer in Statistiken beschreiben. Der Quartierskoordinatorin geht es deshalb um die „Aktivierung der MieterInnenschaft“, wie sie es nennt, also Hilfe zur Selbsthilfe.

„Die Gewobag ist eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft und stellt besonders in diesem Quartier viele Sozialwohnungen zur Verfügung“, erklärt sie. „Wir wünschen uns auch, dass sich die Menschen hier wohlfühlen, wollen aber nicht von oben herab etwas bestimmen. Die MieterInnen sollen ihr Quartier selbst mitgestalten und zur Veränderung beitragen können.“

Genau das ist, was im MGH ein paar Straßen weiter bei „Plan MSA“ passiert. Das Projekt ist zwar nur ein Baustein, der jungen QuartiersbewohnerInnen bei der Gestaltung ihrer Zukunft hilft, aber ein ganz wesentlicher. Damit nicht die Quartierprognose die Perspektiven vorgibt, sondern junge Menschen sie sich selbst schaffen. Als Architekt, als Zahnärztin oder als Pilotin.

Das Projekt

„Plan MSA“ ist ein Projekt von Plan Solidarität e.V. Der Verein setzt sich auf lokaler Ebene für eine gleichberechtigte Teilhabe benachteiligter Bevölkerungsgruppen an der Gesellschaft ein. Seine Arbeit richtet sich vor allem an Jugendliche. Einen Überblick über die Arbeit von „Plan MSA“ und dessen Kursangebot bietet die Projektwebseite.

Zur Webseite des Projekts

Titelfoto: Nils Bröer/raufeld

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