BSR-Managerin Birgit Nimke-Sliwinski spricht während ihres Vortrags in ein Mikrofon.

Frische Impulse gegen Vermüllung: neues Bewusstsein für ein altes Problem

Bei der Gewobag-Veranstaltung „sowohntberlin“ haben ImpulsgeberInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur über den Umgang mit Müll diskutiert und kreative Lösungen vorgestellt.

Die Zahlen hatten es in sich. Neun (!) gefüllte Sperrmüllfahrzeuge pro Woche – unvorstellbare 15.000 Kubikmeter an ausrangierten Möbeln, Matratzen und anderen Gegenständen pro Jahr. Das alles in nur einem Gewobag-Quartier in Spandau, umgerechnet rund viereinhalb Kubikmeter Sperrmüll pro Haushalt. Kostenpunkt für die Entsorgung im Jahr 2022: 163.000 Euro. Ein Betrag, den die 3.300 Haushalte über die Betriebskostenabrechnung selbst bezahlen müssen.

Sicher, die Werte, die Gewobag-Vorstandsmitglied Snezana Michaelis bei der Diskussionsveranstaltung „sowohntberlin“ präsentierte, waren ein Extrembeispiel, doch sie verdeutlichen, mit welchem Maß an Abfall Berlin zum Teil konfrontiert ist. Was die Ursachen dafür sind und an welchen Stellschrauben im Kampf gegen die Vermüllung von Wohnumfeld, Kiezen und öffentlichem Raum wirksam gedreht werden kann? Darüber diskutierten am 14. September verschiedene AkteurInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur im Café Blumental in Kreuzberg. Die Leitfrage des Gewobag-Events: Müll in der Stadt – Symptom für Verwahrlosung oder Chance für Veränderung?

Gewobag-Vorstandsmitglied Snezana Michaelis spricht während ihres Vortrags in ein Mikrofon.
Setzt auf die Devise „weniger ist mehr“: Gewobag-Vorstandsmitglied Snezana Michaelis warb für Müllvermeidung, unter anderem durch Verzicht auf Einwegprodukte. Foto: Britta Leuermann

„Müll ist nicht sexy, betrifft uns aber alle“, sagte Michaelis in ihrer Begrüßungsrede, „deshalb wollen wir mit verschiedenen ImpulsgeberInnen eine gemeinsame Vision für eine sauberere und nachhaltigere Zukunft entwickeln.“

Stärkere Sensibilisierung für das Thema Müll

So vielschichtig das Müllproblem in Berlin ist, so unterschiedlich waren auch die ExpertInnen, die Einblicke in ihre jeweiligen Fachgebiete gaben. Das Themenspektrum erstreckte sich dabei von Müllentsorgung, Mehrweglösungen und Verpackungskonzepten über Re-Use- und Upcycling-Ideen bis zu Maßnahmen, die das Gemeinschaftsgefühl stärken sollen. Eine inhaltliche Breite, die verdeutlichte: Um der Vision von einem saubereren Berlin näherzukommen, ist die gesamte Gesellschaft gefordert.

Birgit Nimke-Sliwinski, Leiterin Re-Use und Zero Waste Management bei der BSR, gab Einblicke in die Arbeit des größten kommunalen Entsorgers Europas. Im Kampf gegen Littering (achtloses Entsorgen von Abfällen im öffentlichen Raum, Anm. d. Red.) sieht sie die Lösung in einem Dreiklang: sichtbare Angebote wie zum Beispiel gut erkennbare Mülleimer in Verbindung mit einer besseren Ausstattung der Bezirke für die ordnungsbehördlichen Tätigkeiten, außerdem eine Sensibilisierung durch Bildungsangebote.

BSR-Managerin Birgit Nimke-Sliwinski spricht während ihres Vortrags in ein Mikrofon.
BSR-Managerin Birgit Nimke-Sliwinski berichtete von positiven Entwicklungen im Kampf gegen die Vermüllung. Foto: Britta Leuermann

Darüber hinaus warb sie für Mehrwegkonzepte, smarte Lösungen zur Sperrmüllentsorgung, die Kieztage der BSR und nachhaltigen Konsum. „Es ist wichtig, auf das Thema aufmerksam zu machen“, sagte sie, allerdings würden Appelle mit „erhobenem Zeigefinger“ kaum Wirkung zeigen.

Stärkung des Gemeinschaftsgefühls

Dr. Elisabeth Süßbauer von der TU Berlin betonte derweil die Bedeutung von Vor-Ort-Maßnahmen, die „das Gemeinschaftsgefühl stärken“. Ein Ergebnis ihrer Forschung: Mit gemeinsamen Cleanup-Aktionen im Quartier könne ein stärkeres Verantwortungs- und Zugehörigkeitsgefühl geschaffen werden.

In der Folge könne ein höheres Engagement im eigenen Wohnumfeld entstehen, verbunden mit verstärkter „sozialer Kontrolle“. Anders ausgedrückt: NachbarInnen, die achtlos Müll wegwerfen, müssten konsequenter darauf hingewiesen werden, dass ein derartiges Verhalten nicht in Ordnung ist.

Dr. Elisabeth Süßbauer von der TU Berlin spricht während ihres Vortrags in ein Mikrofon
Dr. Elisabeth Süßbauer von der TU Berlin betonte, wie wichtig die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls in den Quartieren ist. Foto: Britta Leuermann

Produktdesigner und Upcycling-Künstler Jan-Micha Gamer vertrat eine unkonventionellere These. Sein Credo: „Es gibt keinen Müll“, stattdessen betrachtet er Abfall als „Material am falschen Ort“, das durch Reparatur, Bearbeitung, Neuinterpretation oder Umnutzung weitere Lebenszyklen erfahren könne, etwa im Bereich von Textilien und Möbeln. Zudem plädierte er dafür, gängige Konsumgewohnheiten auf den Prüfstand zu stellen. Die Leitfrage, die sich jede Person stellen müsse: „Was brauche ich eigentlich wirklich?“

Produktdesigner Jam Micha Gamer spricht während seines Vortrags in ein Mikrofon
Produktdesigner Jan-Micha Gamer wünscht sich neue Perspektiven. Sein Credo: „Es gibt keinen Müll, nur Material am falschen Ort.“ Foto: Britta Leuermann

Mehr Kreativität, weniger Verpackung

Wie genau die Neuinterpretation von Textilien und anderen Gegenständen aussehen kann? Das zeigte Textilkünstlerin Paula Kunkel, die einige ihrer spektakulären Designs präsentierte. Ein Kleid aus alte Jeans-Säumen, eine Weste aus abgetragenen Schuhen oder ein Lampenschirm aus ausrangierten Gardinenringen: Kunkel verfügt über die Gabe, mutmaßlich wertlosen Gegenständen neues Leben einzuhauchen und weiß damit zu inspirieren.

Ständig Neuwaren zu kaufen, sei überhaupt nicht nötig, sagte sie. „Das Material ist schon da, wir müssen nur die Augen aufmachen. Ich sehe in allem Potenzial. Die Antwort auf die Frage, was Dinge sind, findet in unseren Köpfen statt.“

Textilkünstlerin Paula Kunkel spricht während ihres Vortrags in ein Mikrofon.
Textilkünstlerin Paula Kunkel präsentierte einige ihrer Upcycling-Kreationen. Foto: Britta Leuermann

Neben den Produkten selbst spielt die Verpackung eine wichtige Rolle. Unternehmenssprecher Thomas Voigt erläuterte in diesem Zusammenhang die Bemühungen der Otto Group, Verpackungen zu minimieren und nachhaltigere Materialien zu verwenden.

Mit Blick auf die Textilindustrie hob er lobend den Markt für Kinderbekleidung hervor, in dem der Anteil an Second-Hand-Käufen inzwischen dominiere. Ein Problemtreiber sei unterdessen die Fast-Fashion-Kultur mit schnell wechselnden Moden, die zu ständigen Neuerwerbungen verleite. „Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher sind gefragt“, sagte Voigt, „aber wir als Händler und Hersteller haben die größeren Hebel und sind in der Verantwortung, eine Veränderung zu schaffen.“

Thomas Voigt von der Otto Group spricht während seines Vortrags in ein Mikrofon.
Unternehmenssprecher Thomas Voigt erläuterte, wie die Otto Group Verpackungsmüll reduziert. Foto: Britta Leuermann

Mehrweglösungen statt Wegwerfkultur

Roland Große hat die Herausforderung längst angenommen. Der Start-up-Gründer (Sykell) präsentierte eine offene Mehrweglösung für Speisen und Getränke, die eine praktische Alternative zu den gängigen Einwegverpackungen darstellt. Ein Schlüssel ist dabei das innovative Pfandsystem. Benutzte Behältnisse können zum Beispiel an den Pfandautomaten einer großen Supermarktkette (Rewe) zurückgegeben werden und vereinfachen VerbraucherInnen so das Handling.

„Im Take-away-Bereich ist es seit 2023 Pflicht, dass für Speisen und Getränke auch Mehrwegverpackungen angeboten werden“, betonte er, „aber die Nachfrage ist noch zu gering. Wir müssen deshalb bessere Anreizsysteme schaffen – Mehrwegprodukte müssen günstiger sein als Einwegprodukte. Wenn es ans Portemonnaie geht, sind die KundInnen schnell mitmachfreudig.“

Start-up-Gründer Roland Große spricht während seines Vortrags in ein Mikrofon.
Start-up-Gründer Roland Große stellte ein offenes Mehrwegsystem für Speisen und Getränke vor. Foto: Britta Leuermann

Ähnlich wie das intakte Kreislaufsystem der Mehrweglösungen schloss sich damit auch der Kreis um den gemeinsamen Nenner der Diskussionsveranstaltung: Jede und jeder Einzelne ist gefordert, im Kampf gegen die Vermüllung einen Beitrag zu leisten. Das Bewusstsein für einen achtsamen Umgang mit Ressourcen und Müll zu schaffen, ist dabei der Anfang.

Titelfoto: Britta Leuermann

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