Nachbarschaft Franz-Klühs-Straße. Ein Wohnhaus mit Bäumen ringsherum und einem Parkplatz. An der linken Bildseite sieht man ein Gebäude mit Graffiti. Im Hintergrund ist der Fernsehturm zu sehen.

So funktioniert Nachbarschaft

Es heißt nicht umsonst: auf gute Nachbarschaft! Der Stadtsoziologe Dr. Jan Üblacker spricht mit uns über die Bedingungen funktionierender Nachbarschaft und das Zusammenspiel sozialer und ökonomischer Komponenten.

Warum die Erwartungen der BewohnerInnen und die Rahmenbedingungen eines Quartiers voneinander abhängig sind und welche Bedeutung digitale Technologien und deren Deutungsinhalte haben, sind weitere Themen dieses Gesprächs.

Ein Interview zum Thema Nachbarschaft mit dem Stadtsoziologen Dr. Jan Üblacker:

Wie wichtig ist eine gut funktionierende Nachbarschaft?

Dr. Jan Üblacker: Kleinere und größere Krisen können als eine Chance für ein Zusammenwachsen der Nachbarschaft verstanden werden. Ein Rohrbruch im Keller eines Mehrparteienhauses zum Beispiel betrifft zunächst alle, sodass ein Anlass für gemeinsames Handeln entsteht, aus dem wiederum ein Gemeinschaftsgefühl erwachsen kann.

Während der Kontaktbeschränkungen der Corona-Pandemie gab es viele Berichte über gegenseitige Hilfeleistungen unter NachbarInnen. Grundsätzlich scheint die Bereitschaft zur nachbarschaftlichen Hilfe durchaus vorhanden zu sein, das unterstreichen auch einige ältere und aktuelle Studien.

Unter bestimmten Rahmenbedingungen können Veränderungen allerdings auch zu Intoleranz und Konflikten in der Nachbarschaft führen. Das kann schon im Kleinen beginnen, wenn die neuen NachbarInnen z. B. den „falschen“ Dialekt sprechen oder Normen und Werte repräsentieren, die auf Ablehnung stoßen.

Welche Bedeutung haben soziale und gewerbliche Strukturen?

Dr. Jan Üblacker: In der Stadtforschung gehen wir davon aus, dass räumliche Nähe die Wahrscheinlichkeit eines Kontakts zwischen Personen erhöht. Demnach bedingt die soziale Struktur der Bevölkerung in der direkten Wohnumgebung – das meint z. B. das Einkommen, den Bildungsgrad oder den Familienstatus der NachbarInnen – bis zu einem gewissen Grad, wem wir zufällig begegnen können und zu wem wir nachbarschaftliche Kontakte aufbauen.

Ob diese Kontakte tatsächlich zustande kommen, hängt dabei zum einen davon ab, wie sich die Personen wechselseitig wahrnehmen, und zum anderen von öffentlichen und gewerblichen Strukturen, die einen Anlass zur Begegnung bieten. Das sind z. B. Parks, Plätze, Cafés, Bars, Vereine, Schulen oder Kitas. Diesen sogenannten „dritten Orten“ wird ein gemeinschaftsbildendes Potenzial zugeschrieben. Dabei muss allerdings genau hingesehen und hinterfragt werden: Wer trifft sich dort mit wem? Werden bestimmte Gruppen ausgeschlossen? Diese Orte können diese Grenzziehungsprozesse sowohl verstärken als auch überwinden.

Wie kann Digitalisierung eine gelebte Nachbarschaft fördern?

Dr. Jan Üblacker: Zunächst ist genauer zu klären, was eigentlich unter „Digitalisierung“ zu verstehen ist. Eine handhabbare Definition wäre z. B.: neue Informations- und Kommunikationstechnologien, die erst durch eine Kombination von mobilen Endgeräten (Smartphones), einer permanenten Internetverbindung und Sensorik ermöglicht werden.

Viele dieser Technologien ermöglichen eine unmittelbarere und direktere Kommunikation von Personen, die scheinbar losgelöst von räumlichen Distanzen stattfindet. Tatsächlich nutzen viele NachbarInnen Messengerdienste und Gruppen in den sozialen Medien dazu, um in ihrer und über ihre Nachbarschaft zu kommunizieren. Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass eben diese Technologien sehr nützlich sein können, wenn es darum geht, physischen Kontakt zu vermeiden und dennoch im Umfeld zu kommunizieren und Hilfe anzubieten.

Nun ist es mit neuen Technologien in der Regel so, dass nicht alle sozialen Gruppen gleichermaßen Zugang zu ihnen haben, sie auf dieselbe Art und Weise nutzen und dementsprechend von ihnen profitieren. Das wiederum wirkt sich auf bestehende soziale Ungleichheiten aus. Wie genau sich diese Situation in einzelnen Nachbarschaften darstellt, hängt von einer Vielzahl von individuellen und kontextuellen Faktoren ab. Hier muss definitiv noch mehr geforscht werden!

Ein weiterer Aspekt der Diskussion um Digitalisierung und Nachbarschaft ist die veränderte Kommunikation über das Wohnumfeld. Durch die Entstehung sozialer Medien können nun alle öffentlich über Ereignisse in ihrer Nachbarschaft kommunizieren. Die Nachricht kann dann allerdings nicht nur von denjenigen gesehen werden, die sich ebenfalls in der Nachbarschaft aufhalten, sondern von allen NutzerInnen des jeweiligen Dienstes. Diese wiederum verbreiten die Nachricht weiter und versehen sie möglicherweise mit einem eigenen Deutungsrahmen. Vor allem normativ polarisierende Ereignisse, wie z. B. politische Demonstrationen oder bestimmte Straftaten, haben das Potenzial, solche Nachrichtenströme auszulösen und damit dem Ort bundesweit Aufmerksamkeit zu verschaffen.

„Daran wird auch deutlich, dass Nachbarschaft und Quartier nicht nur aus der Perspektive der BewohnerInnen gedacht werden können, sondern auch aus Sicht temporärer NutzerInnen.“

Dr. Jan Üblacker, Stadtsoziologen

Was macht ein nachbarschaftlich funktionierendes Quartier aus?

Dr. Jan Üblacker: Das hängt von den individuellen Bedürfnissen und Erwartungen der NachbarInnen und den strukturellen Rahmenbedingungen des Quartiers ab. Und davon, was man unter „nachbarschaftlich funktionieren“ genau versteht.

Für eine Familie mit Kindern kann ein Quartier „nachbarschaftlich funktionieren“, wenn Kitas und Schulen fußläufig zu erreichen sind und auch andere Familien in der Nähe wohnen, mit denen man sich austauschen kann. Sie schätzen eine sichere und ruhige Wohnumgebung, sodass die Kinder auf der Straße spielen können. NachbarInnen mit geringem Einkommen hingegen stören sich vielleicht an zu hohen Mieten im Quartier, weil ihr verbleibendes Budget nicht ausreicht, um die Infrastrukturen vor Ort zu nutzen und dadurch ihre gesellschaftliche Teilhabe eingeschränkt wird. Aus dieser Perspektive betrachtet „funktioniert“ für sie das Quartier weniger gut. Für Wohnungslose wiederum zeichnet sich ein „nachbarschaftlich funktionierendes“ Quartier möglicherweise dadurch aus, dass sie auf den öffentlichen Plätzen toleriert und vielleicht sogar freundlich gegrüßt werden.

Daran wird auch deutlich, dass Nachbarschaft und Quartier nicht nur aus der Perspektive der BewohnerInnen gedacht werden können, sondern auch aus Sicht temporärer NutzerInnen. Besonders komplex wird die Situation, wenn wir uns die vorangegangenen Beispiele nicht als drei separate Orte, sondern als ein und dasselbe Quartier vorstellen. Dann kann es nämlich durchaus sein, dass die verschiedenen Bedürfnisse und Erwartungen der Gruppen miteinander in Konflikt geraten und verhandelt werden müssen.

Welcher Aspekt – der soziale, der ökonomische, der der Nachhaltigkeit – ist der elementarste für ein nachbarschaftlich funktionierendes Quartier?

Dr. Jan Üblacker: Das hängt sicherlich von der Perspektive der jeweiligen AkteurInnen ab. Mich persönlich interessieren vor allem die Wechselwirkungen zwischen sozialen und ökonomischen Aspekten und wie sich diese auf das Zusammenleben in den Quartieren und Nachbarschaften auswirken. Dabei ist klar, dass ökonomische Prozesse das Zusammenleben in den Quartieren beeinflussen. So entscheiden etwa die Belegungspraktiken der EigentümerInnen oder die geforderten Angebotsmieten mit darüber, welche Personen in welchen Quartieren wohnen können.

Ob und für wen die Nachbarschaft dann in welchem Sinne „funktioniert“, ist durch diese Vorgänge zwar bedingt, aber nicht determiniert. Das heißt, letztlich entscheiden auch die sozialen Konstellationen und Praktiken vor Ort darüber, wie sich Nachbarschaft konstituiert.

Wie kann Ihrer Meinung nach Nachbarschaft in Zukunft funktionieren?

Dr. Jan Üblacker: Dazu kann ich leider nur Vermutungen anstellen. Ich denke, letztlich ist es wichtig, dass sich alle überlegen, in was für einer Nachbarschaft sie gerne leben würden und dann entsprechend handeln. Das betrifft nicht nur die NachbarInnen selbst, sondern auch StadtpolitikerInnen, die Wohnungsunternehmen und kommunale Verwaltungen. Außerdem ist es nicht so, als würde Nachbarschaft heute nicht auch schon „funktionieren“. Sie funktioniert eben nur an manchen Orten anders als an anderen.

„Wer erinnert sich noch an Bubble-Tea-Läden und was passiert mit den unzähligen Bankfilialen, wenn immer mehr Menschen Online-Banking nutzen? Derzeit steht die Bar- und Clubkultur in vielen Städten aufgrund der coronabedingten Schließung vor existentiellen Nöten. Was wird davon in einem Jahr noch übrig sein und welche neuen Ideen werden nachrücken?“

Dr. Jan Üblacker, Stadtsoziologen

Welche Quartierstrukturen werden verloren gehen, welche neuen werden sich entwickeln?

Dr. Jan Üblacker: Die Vergangenheit hat gezeigt, dass solche Prognosen nur sehr schwer zu treffen sind. Eine Zeit lang ging man davon aus, dass die Nachbarschaft und das Lokale aufgrund der globalen Vernetzung an Bedeutung verlieren werden. Nun haben uns nicht erst die mancherorts entstandenen Hilfenetzwerke während der Corona-Pandemie gelehrt, dass die Nachbarschaft sehr wohl von Bedeutung ist.

Ganz allgemein lässt sich sagen, dass große gesellschaftliche Veränderungen immer auch die Städte, Quartiere und Nachbarschaften betreffen. Welche Veränderungen sich wo und wie abzeichnen, ist von sehr vielen verschiedenen Faktoren abhängig und daher nur schwer vorherzugsagen. So können beispielsweise Entwicklungen auf den Finanzmärkten dazu führen, dass sich das Bewirtschaftungs- und Investitionsverhalten von Wohnungsunternehmen verändert und aufgrund dessen Mieten steigen oder in Wohnungsbestände desinvestiert wird.

Dr. Jan Üblacker: Auch das lokale Gewerbe unterliegt bestimmten Branchen- und Konsumtrends. Wer erinnert sich noch an Bubble-Tea-Läden und was passiert mit den unzähligen Bankfilialen, wenn immer mehr Menschen Online-Banking nutzen? Derzeit steht die Bar- und Clubkultur in vielen Städten aufgrund der coronabedingten Schließung vor existentiellen Nöten. Was wird davon in einem Jahr noch übrig sein und welche neuen Ideen werden nachrücken?

Das Besondere an der gewerblichen Infrastruktur ist, dass sie neben ihrer betriebswirtschaftlichen Funktionsweise in vielen Quartieren und für viele BewohnerInnen auch eine Ortsbindung und bestimmte kulturelle Werte transportiert. Umso tragischer ist es oftmals für die Nachbarschaft, wenn solche Orte verloren gehen.

Nicht zuletzt ist es natürlich auch der soziale Wandel, der seine Spuren in den Quartieren und Nachbarschaften hinterlässt. So sind in älteren Feldstudien Interviewauszüge zu finden, in denen Alteingesessene sich irritiert über die häufige Abwesenheit ihrer jüngst zugezogenen, alleinstehenden und kinderlosen Nachbarinnen zeigen. Solche und ähnliche Aussagen dokumentieren die jeweils vorherrschenden Normen und Werte sehr schön und zeigen uns, dass auch diese sich in einem stetigen Wandel befinden. Das Beispiel stammt aus einer Hamburger Studie einiger KollegInnen aus den späten 1980er Jahren.

Welche Grundlagen müssen heute gelegt werden?

Dr. Jan Üblacker: Ich kann niemandem sagen, was er tun muss oder soll. Ich kann nur dazu einladen, mit Stadt-, Quartiers- und NachbarschaftsforscherInnen über ihre Befunde in einen Austausch zu treten und gemeinsam deren Bedeutung für den jeweiligen lokalen Kontext und darüber hinaus zu diskutieren.

Danke für das Gespräch!

Zur Person

Zu den Forschungs- und Schwerpunkthemen des Stadtsoziologen Dr. Jan Üblacker gehören Gentrifizierung, Wohnen, Wandel von Nachbarschaften, soziale Integration und soziale Ungleichheit. Aktuell lehrt Dr. Jan Üblacker im Bereich Stadt- und Quartiersentwicklung an der EBZ Business School (FH) in Bochum, wo er im Juni 2020 eine Professur angetreten hat. Zuvor war er u. a. Postdoc am ILS Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund.

2019 erschien die Publikation: „Digitalisierung und Nachbarschaft“, herausgegeben von Rolf G. Heinze, Sebastian Kurtenbach und Jan Üblacker.

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