Eine junge Frau sitzt malend an einem Schreibtisch, auf dem zahlreiche Mal- und Bastelutensilien zu sehen sind. An der Wand hängen zahlreiche Bilder. Foto: Christian Rückert

Ausstellung zu Fresh A.I.R. #9: Weil Inspiration die halbe Miete ist

Das Fresh-A.I.R.-Programm der Gewobag-Stiftung Berliner Leben ermöglicht KünstlerInnen, ein Jahr lang unbeschwert zu arbeiten. Das freigesetzte Kreativpotenzial zeigt sich nicht nur in der aktuellen Ausstellung, sondern auch in diversen Quartieren.

Wer die Augen aufmerksam durch den Ausstellungsraum in der Bülowstraße 97 wandern lässt, sieht zwei kleine Keramikfiguren unter einem Heizungsrohr hocken: Die Augen geschlossen, die Handinnenflächen vor der Brust gefaltet, knien zwei Miniatur-Mädchen vor einer goldenen Musikkassette, deren Magnetband um ihre Körper, ihre hüftlangen Haare und das Heizungsrohr gewickelt ist.

Die Szene weckt Erinnerungen: Musikaufnahmen aus Kindertagen, Bandsalat, aus Versehen überspielte Dialoge, das hektische Drücken der Stopptaste, damit die Stimme im Radio nicht den gerade mitgeschnittenen Hit ruiniert. 

Künstlerische Vielfalt mit Berliner Anstrich

Kasia Dudziak mag es, wenn sich die Menschen ihre eigenen Bilder machen, während sie ihre Figuren betrachten. Von Januar bis Dezember 2024 lebte die Keramikkünstlerin, die auch Illustratorin und Sängerin ist, im Rahmen des Fresh-A.I.R.-Stipendienprogramms der Gewobag-Stiftung Berliner Leben als „Artist in Residence“ (A.I.R.) in Berlin. Als eine von zwölf KünstlerInnen aus acht europäischen Ländern widmete sie sich dem Thema „Unsupervised: Childhood Dreams & Fantasy Rebels“. Dabei beleuchten die KünstlerInnen die Kindheit und das Kindsein in vielfältigen Facetten – die unbeschwerte Seite ebenso wie die dunkleren Episoden.

Zu den Mädchen und ihrer Kassette gibt es eine Geschichte. Sie basiert wie die der anderen Keramikfiguren, die spielerisch im Raum verteilt sind, auf Gesprächen, die Kasia Dudziak zwischen Januar und März 2024 mit Menschen in Berlin geführt hat. Die ihr anvertrauten Geschichten verarbeitete sie behutsam zu Szenen, die zeigen, wie persönliche Erfahrungen, Folklore, Spiele und Kindheitserinnerungen im Lauf der Zeit sowohl individuelle als auch kollektive Identitäten formen.

„Die große Wohnung
mit den hohen Decken
hat mich so inspiriert,
dass ich erstmals Bilder gemalt habe,
die größer sind als DIN A3.“

Kasia Dudziak,
Fresh-A.I.R-Stipendiatin

Seit 2018 bietet die Stiftung Berliner Leben Stipendiatinnen und Stipendiaten mit dem Fresh-A.I.R.-Programm die Möglichkeit, sich eingebunden in das Berliner Kulturleben künstlerisch weiterzuentwickeln. Der Wert des Stipendiums beläuft sich für die Dauer des Aufenthalts auf bis zu 2.100 Euro pro Person im Monat und beinhaltet einen Zuschuss zu Material- und Mobilitätskosten, eine monatliche Supervision sowie eine Wohnung oberhalb des Urban Nation Museums in Schöneberg. Auf vier Etagen und 1.500 Quadratmetern befinden sich elf Künstlerresidenzen und ein Gemeinschaftsraum.

Kunst, die in die Quartiere wirkt

„Die große Wohnung mit den hohen Decken hat mich so inspiriert, dass ich erstmals angefangen habe, Bilder zu malen, die größer sind als DIN A3“, erzählt sie. Nun muss sie nur überlegen, wohin damit.

Ihr größtes Gemälde „All is full of Love“ ziert die Community Wall in der Schöneberger Bülowstraße und zeigt exemplarisch den Brückenschlag zwischen Fresh-A.I.R.-StipendiatInnen und den Wohnquartieren der Gewobag. Auch in der Keramik hat sie sich getraut, größer zu denken. „Mein Lieblingswerk von Kasia ist der Wal. Es war eine Freude, zu beobachten, wie sie in ihrer Arbeit über sich hinausgewachsen ist“, sagt Janine Arndt, Künstlerische Leiterin und Kuratorin der Ausstellung. 

Den Wal, der Berlin auf seinem Rücken trägt, erstellte Kasia Dudziak aus einem zehn Kilogramm schweren Tonklumpen. Diesen auszuhöhlen, ohne dass er kollabiert, sei eine große Herausforderung gewesen, berichtet die Künstlerin. „Ich mag es, aus meiner Komfortzone herauszutreten, auch um anderen Menschen zu zeigen: Wenn ich das kann, kannst du das auch“, sagt sie. 

Das Fresh-A.I.R.-Stipendium ermöglicht es den KünstlerInnen, knapp ein Jahr unter finanzieller Sicherheit konzentriert zu arbeiten – eine Chance, die vor dem Hintergrund der drastischen Kürzungen in Berlins Kulturetat eine besondere Bedeutung bekommt. Nicht zu vergessen: Durch ihr Engagement in diverse Stiftungsprojekten wirkt die Kunst unmittelbar in die Quartiere der Gewobag hinein, schafft dort Identifikation und neue Perspektiven.

Leichtigkeit trifft emotionale Tiefe

Im knapp 100 Quadratmeter großen Ausstellungsraum in Schöneberg vermischen sich die Werke des neunten Fresh-A.I.R.-Jahrgangs, ihre emotionale Tiefe und ihre Leichtigkeit: Eine Maus auf dem Weg zur Flugstunde trifft auf Kasia Dudziaks Wal und die Kassetten-Mädchen. Neben einem magischen Fuchsbau werden die BesucherInnen zu Meteoriten-Fitness animiert, und gegenüber einer gleichsam nostalgischen wie etwas verstörenden Installation aus Naturmaterialien, Fundstücken, Gips, Silikon und Latex findet sich etwas, von dem Janine Arndt sagt: „Ein solches Projekt ist für Fresh A.I.R. eine Premiere.“

Gemeint ist: „Connection is Corrupted” von Nóra Juhász. Die ungarische Künstlerin und Theater-Macherin hat das Thema „Unsupervised – Childhood Dreams & Fantsasy Rebels“ als Strategie interpretiert. Undercover erstellte sie eine Webseite für ein Kulturpostamt in Grünau, das es nicht gibt und trat als fiktive Kunsthistorikerin Diana Pfeiffer per E-Mail mit anderen europäischen Postmuseen in Kontakt, um Erinnerungen an die Vergangenheit der Briefkommunikation zu sammeln. Sie erfasste die Erinnerungen der Mitarbeitenden und extrahierte die Besonderheiten der aussterbenden Kommunikation in Papierform, zum Beispiel die besondere Rolle der Postboten als tägliche Vertraute, die Ähnlichkeit zwischen heutigen Kurznachrichten und dem damaligen Telegramm sowie die Tatsache, dass in einem von Hand geschriebenen Brief eine besondere Wertschätzung mitschwingt. 

Stipendium mit Sprungbrett-Wirkung

„Das Schreiben und das Empfangen von Briefen per Post empfinde ich als sehr erdende zwischenmenschliche Erfahrung, während Online-Kommunikation eher zerfahrene Gedankenströme erzeugt, die verhindern, dass wir im Moment leben“, sagt Nóra Juhász. Auf rebellische Weise hat sie Undercover ein Projekt kreiert, das den Brief als Kindheitserinnerung vieler Generationen in unser Bewusstsein zurückholt. Gleichzeitig macht ihre Arbeit darauf aufmerksam, wie leicht es in der virtuellen Welt ist, Menschen zu täuschen.

Ihre Lieblingsreaktion war die einer knapp 20 Jahre alten Frau, die sie zunächst fragte, was ein Postmuseum überhaupt sei und dann in Erinnerungen an längst vergessene Postkarten schwelgte. „Ich glaube, es war der erste Moment in ihrem Leben, in dem sie über diese Art von geschriebener kultureller Vergangenheit nachdachte, die sie ja nie wirklich erlebt hat“, sagt Nóra. 

Genau wie Kasia Dudziak hatte sich auch Nóra Juhász bereits zum dritten Mal für das Fresh-A.I.R.-Stipendium beworben. „Das Programm ist in unseren Kreisen sehr berühmt. Alle bewerben sich dort“, sagt sie. Die Zeit in Berlin kann Türen öffnen und weitere Ideen hervorbringen. Kasia Dudziak möchte ihre Keramikfiguren zum Beispiel in Form eines Treasure Hunt in der Stadt verteilen. „Connection is Corrupted” wird ab Mai im Ludwig Museum of Contemporary Art in Budapest ausgestellt, außerdem möchte Nóra Juhász ihr Projekt ins Museum für Kommunikation in Berlin bringen.

Ausstellung noch bis 30. März 2025

Etwa 250 Bewerbungen erhalten Janine Arndt und ihr Team pro Jahrgang, maximal 13 KünstlerInnen werden angenommen. Nach den Jahrgangsthemen Migration und Demokratie hatte die Kuratorin die Idee für Childhood Dreams & Fantasy Rebels. „Mir schwebte ein Jahrgang vor, der sprudelt, leuchtet und mit einer Leichtigkeit überzeugt, die der Welt aktuell guttut“, sagt sie.

Bis zum 30. März 2025 sind die Projekte des neunten Jahrgangs noch in der Bülowstraße 97 ausgestellt. Derzeit zieht der zehnte Jahrgang in die Räumlichkeiten der Gewobag ein. Die neuen Artists in Residence setzen sich unter dem Titel: „I AM FLUX: The Freedom of Being and the Possibilities of Becoming“ mit der unerschöpflichen Entwicklungs- und Transformationsfähigkeit des Menschen und seiner Perspektiven auf sich selbst auseinander. Für Janine Arndt heißt das: „Es geht darum, auf jeder Ebene des Selbst die Grenzen zu erweitern. Und dabei eventuell die Grenzen im Kopf zu verschieben.“

Abschlussausstellung des 9. Fresh-A.I.R.-Jahrgangs
Urban-Nation-Projektraum
Bülowstraße 97
10783 Berlin

Öffnungszeiten
Di – Mi: 10:00 – 18:00 Uhr
Do – So: 12:00 – 20:00 Uhr

Laufzeit noch bis zum 30.03.2025  

Titelfoto: Christian Rückert

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